14.06.2014

Brief

Brief eines todkranken jungen Mädchens an ihre 
Mutter (Nach dem Tode des jungen Mädchens von einer Krankenschwester 
gefunden)

Liebe Mutter!

Seit einigen Tagen kann ich nur noch 
eine halbe Stunde täglich im Bett sitzen, sonst 
liege ich fest. Das Herz will nicht mehr. 
Heute früh sagte der Professor etwas - es klang 
so nach ‚gefasst sein’. 
Worauf? 
Es ist sicher schwer, jung zu sterben! 
Gefasst muss ich darauf sein, dass ich 
am Wochenanfang ein Gewesener bin - und ich bin 
nicht gefasst. 

Die Schmerzen wühlen fast unerträglich; aber
wirklich 
unerträglich dünkt es mich, dass ich nicht gefasst bin. 
Das Schlimmste ist, wenn ich zum Himmel aufblicke, 
ist er finster. Es wird Nacht, aber kein Stern glänzt 
über mir, auf den ich im Versinken blicken könnte.

Mutter, ich war nie gottesfürchtig; aber ich fühle 
jetzt, dass da eine Macht ist, der wir in die Hände 
fallen, der wir antworten müssen auf alle Fragen. Und 
das ist meine Qual, dass ich nicht weiß, wer das ist. 
Wenn ich Ihn kennen würde!

Mutter, weißt Du noch, wie Du mit uns Kindern durch 
den Wald gingst, bei einbrechender Dunkelheit, dem 
Vater entgegen, der von der Arbeit kam? Wir liefen 
Dir manchmal davon und sahen uns plötzlich allein. 
Schritte kamen durch die Finsternis - welche Angst 
vor den fremden Schritten! Welche Freude, wenn wir 
den Schritt erkannten als den Deinen, den der Mutter, 
die uns liebte. Und nun höre ich wieder in Einsamkeit 
Schritte, die ich nicht kenne. Warum kenne ich sie 
nicht?

Du hast mir gesagt, wie ich mich kleiden muss und 
wie ich mich im Leben verhalten muss, wie man isst, 
wie man so durchs Leben kommt. Du hast für mich 
gesorgt; Du wurdest nicht müde über allem Sorgen. 
Ich erinnere mich auch, dass Du am Heiligabend mit 
Deinen Kindern in die Christmette gingst; auch an ein 
Abendgebet erinnere ich mich, das Du mir einige Male 
vorgesagt hast. Immer hast Du uns zur Ehrlichkeit 
angehalten. Aber das alles zerfällt mir jetzt wie mürber
Zunder.


Warum hast 
Du uns von so 
vielen gesagt 
und nicht - 
von Jesus 
Christus?

Warum hast 
Du mich nicht 
bekannt 
gemacht mit 
dem 
Klang seines 
Schrittes, 
dass 
ich merken 
könnte, ob Er 
zu mir kommt 
in dieser 
letzten Nacht 
und Todes - 
Einsamkeit?



Dass ich wüsste, ob der, der da auf mich wartet, ein 
Vater ist! Wie anders könnte ich sterben!

- Quelle: Kinder nicht um Gott betrügen (Albert Biesinger)
- Bild: Frau mit Kind (Bea de Terra)

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