21.05.2015

Die Lieblingsfarbe

"In welche Klasse gehst du denn?", wollte Martin von Ole wissen, während er die Vorbereitungen für den Gipsverband traf. Martin arbeitete seit mehr als zwanzig Jahren als Pfleger im örtlichen Krankenhaus und hatte bereits so viele gebrochene Arme und Beine versorgt, dass er längst den Überblick verloren hatte.
Ole war beim Fußballspielen gestürzt und hatte sich den rechten Arm gebrochen, so wie unzählige Kinder vor ihm. "In die dritte", antwortete der Junge, während er jeden Schritt, den Martin unternahm, genau verfolgte. Sie unterhielten sich ein wenig über Oles Lieblingsschulfächer, seinen Sportverein und diskutierten darüber, ob Bayern München wohl wieder Meister werden würde.
Wenn Martin bei Kindern einen Gips anlegte, erklärte er alles ganz genau, beantwortete geduldig alle Fragen und versicherte den kleinen Patienten, dass die Zeit, bis der Gips wieder abgenommen wurde, schneller verging als man glaubte.
Bei Ole war es nun an der Zeit, dass er sich einen Überzug aussuchen durfte für seinen Gips. Für Kinder gab es alle möglichen Farben und seit kurzem auch Motive wie Spiderman oder andere Helden. "Was darf’s denn sein?", wollte Martin wissen und zeigte dem Jungen die neuesten Überzüge, davon ausgehend, dass er, wie die meisten Jungen in seinem Alter, etwas ‚cooles‘ aussuchen würde.
Bild von: fotolia
"Ich glaub, ich nehme den in rosa", sagte Ole nach einem Moment des Zögerns.
"Rosa??"
Ole nickte. "Ja, wegen meiner kleinen Schwester", sagte er und rollte dabei mit den Augen. "Rosa ist ihre absolute Lieblingsfarbe. Sie hat total geheult als ich mit dem Krankenwagen abgeholt wurde. Ich will ihr zeigen, dass alles in Ordnung ist, damit sie keine Angst haben muss."
Martin drehte sich um und wusch sich sehr sorgfältig die Hände. Aus irgendeinem Grund waren seine Augen bei Oles Worten feucht geworden und sein Hals fühlte sich an wie zugeschnürt. Dass ein Junge im Alter von neun Jahren freiwillig einen rosa Gips wählte, um seine kleine Schwester glücklich zu machen, war in all den Jahren noch nie vorgekommen. Es war ein so simpler, gleichzeitig aber großer Akt der Freundlichkeit, der ihn berührte.
"Willst du den Barbie-Überzug?", wollte er mit belegter Stimme wissen.
Er hatte sich wieder so weit unter Kontrolle, dass er den Jungen wieder anschauen konnte.
Ole grinste. "Hey, wir müssen nicht übertreiben!"


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