06.07.2014

Geduld

Es war einmal ein junger Bauer, der wollte 

seine Liebste treffen. Er war ein ungeduldiger 

Geselle und viel zu früh gekommen. Und verstand 

sich schlecht aufs' Warten. Er sah nicht den 

Sonnenschein, nicht den Frühling und die Pracht der 

Blumen. 

Ungeduldig warf er sich unter einen Baum 

und haderte mit sich und der Welt. Da stand plötzlich 

ein graues Männlein vor ihm und sagte: Ich weiß, wo 

dich der Schuh drückt. Nimm diesen Knopf und nähe 

ihn an dein Wams. Und wenn du auf etwas wartest 

und dir die Zeit zu langsam geht, dann brauchst du 

nur den Knopf nach rechts zu drehen, und du 

springst über die Zeit hinweg bis dahin, wo du willst. 

Er nahm den Zauberknopf und drehte: und schon 

stand die Liebste vor ihm und lachte ihn an. Er drehte 

abermals: Und saß mit ihr beim Hochzeitsschmaus. 

Da sah er seiner jungen Frau in die Augen: Wenn wir 

doch schon allein wären...Wenn unser neues Haus 

fertig wäre...Und er drehte immer wieder. Jetzt fehlen 

uns noch die Kinder und drehte schnell an dem 

Knopf. 

Dann kam ihm neues in den Sinn und konnte es nicht 

erwarten. Und drehte, drehte, dass das Leben an 

ihm vorbei sprang, und ehe er sich's versah, war er 

ein alter Mann und lag auf dem Sterbebett. Und 

merkte, dass er schlecht gewirtschaftet hatte. Nun, 

da sein Leben verrauscht war, erkannte er, dass auch 

das Warten des Lebens wert ist. Und er wünschte 

sich die Zeit zurück.


Heinrich Spoerl (1887-1955), dt. Schriftsteller





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